Kultur- und Geschichtsverein
Frickhofen e. V.

Aus der Fülle dieser Artikel möchten wir Ihnen - mit freundlicher Genehmigung des Verlages bzw. der jweiligen Autoren - in diesem Rahmen einige besonders interessante Beispiele zusammenstellen. Zur besseren Orientierung haben wir versucht, die jeweiligen Artikel thematisch zu ordnen.

Artikel von Heribert Heep

Entwicklung der Vereine in Frickhofen

Zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation in Frickhofen

Geschichte einzelner Familien und Personen

Zur Geschichte der Juden in Frickhofen

Weitere Themen

Handels- und Musikantenkinder im Hadamarer Land

Kindermusikanten bei einer Feier

Der Schulchronist von Niederhadamar beschreibt die Folgen der 48er Revolution für die Schule: "Die unglückseligen Ereignisse dieses Jahres, die Freiheit des 4ten Märzes, verfehlten ihren vergiftenden Einfluss auf die Schule keineswegs. Sowie die Eltern Tag und Nacht und allen Gesetzen Hohn sprachen, so geschah es im kleinen bei den Kindern. Die Schule wurde unschlüssig, sogar schlecht besucht; in der Schule war nur mit aller Mühe Ordnung zu halten. Die reicheren Kinder mussten ins Feld, die ärmeren machten sich ein Geschäft aus dem Holztragen, Betteln etc. Strafen waren nicht anzusetzen, da keine Obrigkeit strafte. So währte dieses Elend bis zum Winter und bis dahin ist noch nicht die alte Unordnung gänzlich verschwunden; sie droht im Gegentheil bei jeder günstigen Gelegenheit wieder hervorzutreten." Der Niederhadamarer Volksschullehrer macht also die Eltern dafür mitverantwortlich, dass sie ihre Kinder schon morgens mit aufs Feld nähmen, statt sie in die Schule zu schicken. Für die Kinder der nichtbäuerlichen Bevölkerung wird das Bettelgeschäft als Grund für das Schulschwänzen genannt, außerdem "Holztragen". Das Sammeln von Leseholz für den Hausbrand aus dem Staats- wie Gemeindewald war in jener Zeit streng verboten und wurde mit sechs Kreuzern je Traglast bestraft. Aber in den Sommermonaten des Revolutionsjahres 1848 waren offenbar Strafen nicht anzusetzen, weit keine Obrigkeit strafte, wie der Niederhadamarer Lehrer klagt. Das bestätigt auch Lehrer Wilhelm aus Niederzeuzheim: "Von nun an (4. März 1848) wurde die Schule bis Mitte des Jahres 1849 (!) von vielen Schülern sehr schlecht besucht, weil die notierten Schulversäumnisse nicht bestraft, und eine allgemeine Gesetzlosigkeit auch ihre nachtheiligen Folgen auf die Schule übte" (Schulchronik Niederzeuzheim).

Bezgl. der Schulversäumnisse galt folgende Erlass-Regelung: Der Lehrer musste jeden Samstag die Schulversäumnisliste dem Schulvorstand übergeben, der die Strafen ansetzte - gewöhnlich zwei Kreuzer pro Fehltag - und sie am Monatsende dem Bürgermeister überstellen, der für die Eintreibung der Strafgelder durch den Gemeinderechner Sorge zu tragen hatte. In der Schulchronik Waldembach hat der Lehrer die Strafgelder der Absentenliste addiert, so dass sich aus der Monatsfolge der Strafgelder sozusagen eine Fieberkurve der Revolutionszeit ablesen lässt: Mai: 108 Gulden Strafgelder für 1.232 Versäumnisse. Juni: 196 fl. entsprechend 2.172 Vers., Juli: 12 fl gleich 772 Ver-säumnisse. August: 157 Schulversäumnisse, Sept.: 19 fl für 217 Vers. Insgesamt listet der Lehrer 3.905 Schulversäumnisse auf, denen eine Strafe von 347 Gulden entspricht. Der Schulchronist berichtet weiter, dass dieses Schuleschwänzen von den Eltern regelrecht abgesprochen worden war: "Die Frühlingsferien wurden, wie bisher, nach dem Bedürfnisse der Eltern bei Heu- und Fruchternte erlheilt. Durch diese schöne Einrichtung ließen sich die Schulversäumnisse doch nicht ganz verdrängen, wie das Strafmanual nachweist, gegen alle Erwartung vermehrten sich die Schulversäumnisse vom 4. März 1848 an. Früher fehlten Kinder unbemittelter Eltern; jetzt fehlen auch solche, die Vermögenderen angehören. Auch wurde - wie gesetzlich - die Schule an Vor- und Nach-mittag von den 4 Klassen vom Sommersemester 1848 an nicht mehr besucht. Die Eltern schützten die ältesten Kinder des Morgens und Nachmittags die Kleineren. Diese Einrichtung wurde gelegentlich bei einer Gemeindeversammlung so abgesprochen." Bemerkenswert ist auch die Notiz des Lehrers, dass vor der Revolution des öfteren "Kinder unbemittelter Eltern" die Schule versäumt hätten. Das lässt darauf schließen, dass die Kinder durch Betteln, Holztragen etc. zum Haushaltseinkommen beitragen mussten bzw. dazu angehalten wurden.

Schon vor der 48er Revolution hatte es vereinzelt Landgänger oder Handelsleute in verschiedenen Westerwalddörfem gegeben. aber erst in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde daraus eine regelrechte Bewegung, ein ökonomischer Faktor für den armen Westerwald, wie Joh. Plenge in dem mehrfach zitierten Buch feststellt. Ein besonderer Zweig dieser Westerwälder Landgänger waren die Wander-Musikanten. Es waren beileibe nicht nur die bekannten Elzer Musiker, die die ganze Welt bereisten. Im statistischen Jahrbuch für Nassau (1847) geben für das Amt Hadamar 52 Haus-haltsvorstände "Musicor" als Beruf an. von denen mit Sicherheit die meisten Wandermusiker waren.

Für Frickhofen sind zwei Großfamilien im 19. Jahrhundert als Musiker-Familien bekannt, die Sippe Klee und die Familie Jung, im Dorf als "Spielmanns" bekannt. Der Musiker Kaspar Konrad Klee heiratete 1822 in Frickhofen Anna Maria Stimper aus Dorchheim. Da er aber noch nicht im vorgeschriebenen Heiratsalter war, musste er ein 'Heiratsgeld' bezahlen, das so genannten 'Rotznasengeld'. Seine Frau hatte sich mit 16 Jahren im Hungerjahr 1817 bei einem Bauer verdingt. Als Lohn für ein ganzes Jahr Arbeit bekam sie im Frühjahr einen Sack Kartoffeln. Die Söhne der Familie Klee lernten schon als Kinder vom Vater ein Musikinstrument spielen. Sobald sie aus der Schule entlassen waren, mussten sie den Vater auf seiner Musikwanderschaft begleiten. Kaspar K. Klee hatte gute Beziehungen zum herzoglichen Hof in Wiesbaden.

Eine Verwandte der Herzogin hatte nach Petersburg an den kaiserlichen Hof geheiratet. Mit einem Empfehlungsschreiben aus Wiesbaden an die russische Großfürstin, so heißt es in einer alten Frickhöfer Chronik, machte sich Klee mit seinen Söhnen ab 1835 auf den Weg nach Petersburg, ab Lübeck mit dem Schiff.

"Er spielte dort den ganzen Sommer am Kaiserlichen Hof. Im Herbst ging er wie¬der nach Hause. Die Kaiserin schenkte ihm einen Ring und Geld und gab ihm ein Schreiben an die Herzogin von Nassau mit. Er fuhr nun jedes Frühjahr im Auftrag der Herzogin nach Petersburg. Er nahm auch seine beiden ältesten Söhne mit. Bei einer Geburt am Kaiserlichen Hof wurde er Pate. Im Herbst warnte ihn die Kaiserin und sagte: 'Väterchen, (so nannte sie ihn) fahrt nur frühzeitig nach Hause, wir bekommen wahrscheinlich einen frühen Winter.' Jedoch sie hatten schon zu lange gewartet. Das Schiff fror auf der Ostsee sechs Wochen lang ein. Sie waren bald alle dem Hungertode nahe, da schlug das Wetter um, das Eis zerbrach und sie konnten die Reise fortsetzen. Da es noch keine Eisenbahn gab. mussten sie zu Fuß von Lübeck nach Hause gehen. Sein Sohn Johann hatte sich die Füße wund gelaufen und sein Vater musste ihn ganze Strecken weit auf dem Rücken tragen. Er brachte von der Reise die ersten Streichhölzer mit. Keiner hatte noch je welche gesehen. Alles staunte. Jeder wollte eins haben, um es zu Hause seiner Familie zu zeigen. Sie nannten es Fixfeuer. - Im Jahre 1839 starb die Verwandte der Herzogin, die russische Großfürstin. Da war es mit den Russlandfahrten vorbei." Soweit die "Brötze-Chronik", etwa um 1920 aufgezeichnet.

Kaspar Konrad Klee und Anna Maria Stimper hatten neun Kinder, von denen alle fünf Söhne Musiker wurden und die vier Töchter Musiker heirateten. Der älteste Sohn Johann heiratete 1846 Elisabeth Hans aus Seck, die in Frickhofen "Seckerlies" gerufen wurde. Aus dieser Ehe gingen acht Kinder hervor, zwei Sohne und sechs Töchter. Auch diese Söhne wurden Musiker. Ab 1840 hatten sich die Frickhöfer Musiker vollständig auf England konzentriert, wo sie von März bis Oktober in verschiedenen Orten Südenglands auf Straßen und Plätzen spielten. Jacob Theodor Klee war 14 Jahre alt, als er seinen Vater Johann 1870 zum ersten Mal nach England zur Musiksaison begleitete. Von dieser Generation Frickhöfer Wander-Musiker blieben einige in England und heirateten dort.

Für den Sommer 1874 kommentiert Hauptlehrer Schandry in der Frickhöfer Schulchronik die Planungen der Hessischen Ludwigsbahn zur Erstellung einer Bahnstrecke "von Hadamar über Westerburg pp." Er beklagt dabei, dass die Streckenführung mitten durch den Ort gehen soll. "Trotz alledem bekommt unser stark bevölkerter Ort, dessen Bewohner zu 2/5 auswärts Handel treiben, keine Station". 40% der Bevölkerung als Landgänger, das waren bei einer Einwohnerzahl von etwa 1.500 etwa 600 Menschen, die von der Landgängerei lebten.

Anna Gotthard, geboren am 13.8.1869. ging mit 13 Jahren "auf den Handel", wie man damals sagte. Die Eltern hatten sie einer älteren erfahrenen Handelsfrau anvertraut. der Katharina Giesendorf, aus einer alteingesessenen Händlerfamilie mit dem Dorfnamen Lisbette. Vermutlich wurde für dieses Arbeitsverhältnis ebenfalls ein Vertrag gemacht, wie das an früherer Stelle berichtet ist, oder auch nur eine mündliche Abmachung auf Treu und Glauben. Jedenfalls hatte die Geschäftsfrau Giesendorf auf der Handelsfahrt für Verpflegung und Unterkunft zu sorgen, gegebenenfalls ein Kleidungsstück oder ein Paar Schuhe zu stellen und nach Abschluss der Fahrt im Oktober den Eltern einen vereinbarten Betrag auszuhändigen. Das Mädchen hatte dafür wochentäglich zu arbeiten, und zwar Handelsgut auf den Straßen anzubieten. Neben der Anna Gotthard war ein zweites Mädchen von der Lisbette Käthchen engagiert.

Obwohl die Schulzeit damals erst Ostern endete, wurde eine Ausnahmegenehmigung erwirkt, so dass die kleine Gruppe schon im Februar losmarschieren konnte. Belgien, genauerhin Wallonien mit den damals aufstrebenden Industrieorten war das Ziel. "Oma. wie bist du denn über die Grenze gekommen?", haben die Enkel später gefragt. "Mit dem Impfpass", hat die Oma erwidert und dann von den langen Verkaufstagen in Charleroi erzählt. Von morgens bis abends musste sie auf den Straßen Solinger Besteck ausbreiten und anbieten und den Verkaufserlös abends mit der Wirtsfrau abrechnen. Eine Verhaltensregel hatte die erfahrene Handelsfrau Giesendorf den Mädchen eingeschärft: "Wenn geschossen wird auf den Straßen, müsst ihr euch in die Hauseingänge flüchten." Es ist anzunehmen, dass damit militante Auseinandersetzungen zwischen Polizei und demonstrierenden, streikenden Arbeitern gemeint waren, die in jenen Jahren besonders in den Industrieregionen in ganz Europa aufkamen.

Zur Schulentlassungsprüfung und zur Erstkommunion - damals erst mit 14 Jahren - kam die Anna Gotthard mit ihrer Schulkameradin wieder für ein bis zwei Wochen zurück nach Frickhofen. Diese Handelstätigkeit in Belgien das junge Mädchen aber nur zwei Jahre mitgemacht. Mit 16 Jahren sagte sie sich: Das kann ich auch auf eigene Regie und Rechnung bewerkstelligen. Sie hat sie sich also selbständig gemacht und ist mit andern "Sachsengängern" in die sächsische Lausitz gezogen. Dort hat sie sich mit Textilhandel einen festen Kundenstamm aufgebaut und bis zum ersten Weltkrieg durchaus lukrativen Handel getrieben.

Hubert Hecker